Nach dem erfolgreichen Pilotprojekt, ECLAT Festival Neue Musik Stuttgart 2021 komplett digital durchzuführen, wird ECLAT 2022 nun erstmals in hybrider Form stattfinden – live in den Sälen vom Theaterhaus, der Theaterhaus-Sporthalle und in der Hospitalkirche Stuttgart sowie live gestreamt für das Publikum in aller Welt. In den Tagen vom 1. bis 6. Februar 2022 sind in 21 Veranstaltungen Werke von 46 Komponist:innen zu erleben, darunter mehr als 30 Uraufführungen.
szenik hat sich mit Christine Fischer, Intendantin von Musik der Jahrhunderte und Künstlerische Leiterin des Festivals, über das diesjährige Programm, die Unterstützung belarusischer KünstlerInnen und der Auseinandersetzung der Künste mit politischen sowie gesellschaftlichen Themen unterhalten.
In der diesjährigen Festivalausgabe wird das Wort „hybrid“ mit Neugier und kreativer Lust unter die Lupe genommen. Ist das Interesse an solchen Formaten gewachsen?
Christine Fischer: Das Bedürfnis sich auszudrücken ist gewachsen, egal ob hybrid oder nicht. Daher präsentieren wir in dieser Ausgabe nicht nur Werke, bei denen das Hybride der Ausgangsfaktor war, sondern laden ebenfalls zu „ganz normalen“, analogen Konzerten ein.
Durch diese zwei Jahre digitaler Wahrnehmung haben wir ein überregionales, internationales Publikum mit einer großen Erwartungshaltung gewonnen. Natürlich möchten wir wieder mit unseren ZuschauerInnen interagieren, aber uns reizt auch die Entwicklung digitaler Formate. Bereits in der letzten Festivalausgabe haben wir versucht eine Situation zu schaffen, bei der die Konzerte attraktiv aufgenommen wurden. Dafür haben wir zahlreiche digitale Möglichkeiten genutzt ; der Bildschirm war unsere Bühne. Das hat viel Spaß gemacht und uns erlaubt mit Collagen, Videoanimationen, grafischen Elementen, etc. zu arbeiten.
Darüber hinaus haben wir einen Festivalort geschaffen. So konnten unsere ZuschauerInnen mehrere Tage dabei sein und an allen Hintergrundgesprächen teilnehmen. Wir haben uns bemüht, im Web ein Portal zu schaffen, das die Dynamik und den Unterhaltungsfaktor eines Theaterfoyers wiedergeben kann. So konnte man sich auch durch Spiele, Kochrezepte und ähnliches klicken. Das möchten wir auch in diesem Jahr wieder anbieten. Unser Wunsch ist das Hybride richtig auszuspielen und das Live-Publikum mit den digitalen ZuschauerInnen zu verbinden.
Wie haben Sie das diesjährige Programm zusammengestellt? Haben Sie sich vorwiegend an KünstlerInnen gerichtet, die mit hybriden Formaten bereits vertraut sind?
Es gibt thematische Werke, die nicht unmittelbar mit dem Hybriden zu tun haben, die uns aber sehr wichtig sind. Zudem gibt es Veranstaltungen, die für diese hybride Situation erstellt wurden. Da haben wir natürlich Menschen angesprochen, die diesbezüglich sehr affin sind.
„Hyphemind“ (am 5.02.2022) ist dafür ein gutes Beispiel. Bereits vor anderthalb Jahren haben wir mit dem Regisseur Matthias Rebstock an der Idee eines neuen Projektes mit den Neuen Vocalsolisten gefeilt und dafür nach einem/r Komponisten/in gesucht. Da kam bereits dieses Hybrid-Thema auf. Wir hatten schon eine solche Erfahrung mit Andreas Eduardo Frank gemacht, mit dem wir im Herbst 2020 an der Frage nach einem attraktiven Seh-und Hörraum im Digitalen gearbeitet haben (SuperSafeSociety, November 2020, Theaterhaus Stuttgart & digital). Das Team, das für dieses Projekt eine Webseite und diverse Interaktionen kreierte, haben wir daraufhin für die Eclat-Ausgabe 20/21 engagiert und die bereits geschaffenen Module einfach weiter ausgearbeitet.
So haben wir uns auch für „Hyphemind“ für Andreas Eduardo Frank entschieden, der dieses Thema wirklich verinnerlicht hat. Seit einem Jahr trifft sich nun schon das Regieteam mit den KünstlerInnen ; sie experimentieren und arbeiten an neuen Interaktionsformaten für das Publikum.

Beim Studieren des Programmen fallen zwei Charakterzüge ins Auge: Poesie und Politik.
Ich habe zum ersten Mal, ganz bewusst, den Schwerpunkt auf Politik gesetzt. Normalerweise fange ich Tendenzen auf und führe viele Gespräche mit den KünstlerInnen. Dieses Jahr geht es aber vor allem um patriarchale oder autokratische Strukturen.
Wie bereits in der letzten Ausgabe steht Belarus im Zentrum des Programmes, aufgrund unseres Bezugs zu unserer ehemaligen Mitarbeiterin und Freundin Maria Kalesnikava. Vor zwei Jahren hat sie sich dazu entschlossen, während der Pandemie in Minsk zu bleiben und dort in den Wahlkampf einzusteigen. Schließlich wurde sie entführt und hat, als Protest gegen ihre Ausweisung, ihren Pass zerrissen. Maria wollte aber ihre Botschaften weiterhin im Land verkünden, selbst wenn dies aus dem Gefängnis heraus geschehen müsste. Und die Entwicklung gibt ihr recht: Viele BelarussInnen brauchen sie. Über 100.000 EinwohnerInnen haben das Land in den letzten Jahren verlassen; vor allem eine junge, digital affine Generation wandert aus, weil sie ihr Land nicht mitgestalten darf und in stetiger Angst lebt. Viele KünstlerInnen haben Belarus verlassen, schon als Hommage an Marias einsamen Kampf im Gefängnis. Dennoch ist Maria sehr präsent; sie hat ein Team, das ihre sozialen Medien permanent füttert und über sie berichtet.
Letzen Endes flankieren wir das durch unsere regelmäßigen Veranstaltungen zum Thema Belarus und unsere Unterstützungen der im Exil lebenden KünstlerInnen.
Natürlich würde ich dies auch sehr gerne für syrische oder afghanische KünstlerInnen machen. Was aus meiner Sicht wichtig ist, und das gilt für alle Länder, in denen diese Autokratien ihre Intelligenz verjagen, sind unsere Hilfe und Kraft, damit all diese Menschen nicht allein auf sich gestellt sind. Was können wir tun, damit sich dieser Wunsch nach einem demokratischen Land zumindest in der Diaspora konkretisieren kann? Diese Kraft ist wichtig, um all denen, die noch vor Ort sind, auch aus der Ferne, Wind in die Segeln zu spielen.
Ich finde es notwendig, dass wir Künste uns mit diesen politischen Themen auseinandersetzen. Dabei geht es nicht nur um Förderung, sondern auch um Fragen der Gesellschaftsbildung und welche Ausdrucksformen wir schaffen können, um bestimmte Themen zu behandeln. Mir ist der Brückenschlag zwischen einer künstlerischen und einer gesellschaftlichen Entwicklung sehr wichtig.
So manche an dieser Festivalausgabe teilnehmenden KünstlerInnen haben auch schon in den letzten Jahren Projekte im Rahmen von ECLAT vorgestellt. Es scheint, als sei Ihnen diese langjährige Begleitung besonders wichtig…
Es sind sehr interessante KünstlerInnen, die wir nun schon seit geraumer Zeit regelmäßig unterstützen. Drei von ihnen sind auch in diesem Jahr wieder dabei: Nadya Sayapina, Zhanna Gladko und Lesia Pcholka, die bereits das dritte Mal mit uns arbeiten (Echoes – Voices from Belarus, am 1.02.2022). Es ist mir wichtig, jemanden kontinuierlich zu begleiten. Erstens, um eine Perspektive zu geben, z. Bsp. durch Honorare. Zweitens, um eine künstlerische Entwicklung mitverfolgen zu können.
Die zeitgenössische Musik spielt in Belarus keine große Rolle. Es gibt sehr wenige KomponistInnen, die sich dort mit diesem Genre auseinandersetzen. Zum Beispiel Oxana Omelchuk, die schon lange in Köln lebt, spielt in diesem Jahr in zwei Projekten eine Rolle. Ansonsten haben wir vor allem LyrikerInnen und KonzertkünstlerInnen in Kontakt mit unserer Musikszene gebracht. Dabei geht es nicht darum, belarusische HeldInnen vorzuzeigen, sondern um unsere zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Krisen. Den größeren Kontext beim Verhalten hinsichtlich all dieser Machtsysteme zu verstehen, sehe ich als wichtige Aufgabe für die Kunst.

Haben Sie den Eindruck, dass die Dringlichkeit des künstlerischen Schaffens in Zeiten der politischen oder gesellschaftlichen Ungewissheiten wächst?
Die künstlerische Dringlichkeit sehe ich absolut. Das Projekt „Limbo“ der ukrainischen Künstlerin Vikoriia Vitrenko ist dafür ein Beispiel (am 6.02.2022). Sie arbeitet hierbei mit ukrainischen, polnischen und chinesischen KomponistInnen zusammen und widmet den Abend ihrer Freundin Maria Kaslesnikava.
Ich kenne viele KomponistInnen, die sich mit politischen oder weitergefassten Themen musikalisch beschäftigen. Ein anderes Beispiel dafür ist das Projekt „Performing Precarity“ (am 3.02.2022). Dabei geht es darum, dass MusikerInnen der zeitgenössischen Musik heutzutage gar nicht mehr nur die auf ihren Instrumenten errungenen Meisterschaften zeigen, sondern viele Dinge gleichzeitig lernen und darbieten müssen. Dadurch entsteht eine gewisse Unsicherheit auf der Bühne, die im Projekt als „prekär“ bezeichnet wird. Es soll gezeigt werden, wie MusikerInnen, die mit ihrer Kenntnis brillieren möchten, plötzlich als „Laien“ auf der Bühne ausgestellt werden. Natürlich ist dies ein künstlerisch immanentes Thema, aber es schlägt auch eine Brücke zu unserer Do It Yourself-Generation und ist damit von gesellschaftlichem Interesse.
Ein roter Faden zieht sich tatsächlich durch das Programm: Die künstlerische Auseinandersetzung mit Retrotechniken. Es scheint mir, dass die Verwendung von digitalen Geräten gerade keine große Rolle mehr in der Kunst spielt. Wir haben mehrere Projekte, bei denen der analoge Synthesizer zum Einsatz kommt. Da wäre zum Beispiel das Projekt „Zurück in der Zukunft“: Hier kommen Ulrich Löffler (Pianist des Ensembles Musikfabrik) und Hannah Weirich (Geigerin des Ensembles Musikfabrik) für ein Duo-Projekt zusammen und lassen uns analoge Keyboards wiederentdecken (am 5.02.2022).
Ich glaube, dass es sich dabei um eine künstlerische Reaktion auf eine extrem digitale Zeit, wie wir sie während der Pandemie erlebt haben, handelt.
Gibt es Projekte, die Sie mit besonderem Nervenkitzel erwarten?
Nervenkitzel gibt es bei dem Projekt „Hypehmind“, denn da bin ich auf die hybride Umsetzung gespannt.
Ein zweiter Nervenkitzel ist unser Abschlusskonzert „Black Macabre“, das wir erst vor vier Wochen ins Programm genommen haben (am 6.02.2022). Hier werden vier Bands an vier unterschiedlichen Orten für einen Abend miteinander verbunden. Aus dem experimentellen Jazz kommend, werden diese Gruppen gemeinsam improvisieren und gelegentlich miteinander verschwimmen.
Bei allen vier Gruppen handelt es sich zum Großteil um belarusische Exil-Bands. Eine unter ihnen befindet sich noch in Minsk und wird an einem geheim gehaltenen Ort spielen. Wir haben dafür alle notwendigen Vorkehrungen getroffen, um die Sicherheit dieser MusikerInnen zu gewährleisten.
Unsere Botschaft wird mit diesem letzten Konzert noch einmal unterstrichen: Wir möchten den Zusammenhalt in der Diaspora feiern. Den Zusammenhalt eines zersprengten Volkes, das, trotz allem, seine Kraft und die des gemeinsamen Interagierens spüren will.
Interview: j. lippmann
Am 25.01.2022, Visiokonferenz
Foto: Afroditi Festa